Das Problem mit dem ethischen Konsum
- CT
- 21. Sept. 2018
- 7 Min. Lesezeit

Ob ich Plastikbecher wolle, fragt die Verkäuferin am Getränkestand, während sie die kleinen Glasflaschen vor mich hinstellt. „Nein, Danke,“ sage ich ganz schnell, um diese bevorstehende Umweltkatastrophe abzuwenden. Aber sie ist genauso schnell, stopft Plastik-Strohhalme in alle Flaschen und kommentiert: „Ick jeb’ ihnen ma’ ’n paa’ Strohhalme.“ Und dann mit einem Augenzwinkern: „Noch jibtit die ja.“ – Kurze Stille. Und dann müssen wir beide lachen. Wir lachen darüber, dass zwei erwachsene Menschen für den Bruchteil einer Sekunde kurz davor waren, sich wegen zweier Strohhalme zu streiten. Wir lachen über mich. Und wir lachen über sie. Sie weiß, DASS Plastik-Strohhalme verboten werden sollen. Sie weiß auch, WARUM. Höchstwahrscheinlich findet sie es sogar richtig. Im Gegensatz zu mir und einer Handvoll anderer Spinner fühlt sie sich aber gar nicht berufen, die Welt im Alleingang zu retten, indem sie der Gesetzgebung durch einen eigenen kleinen Boykott vorgreift.
GEMA-Phänomene nennt der Betriebswirtschaftsprofessor Timo Busch so etwas: „G steht für Gewöhnung – alle fahren Auto oder fliegen in den Urlaub, deshalb wird das vom Einzelnen nicht kritisch hinterfragt. E steht für den Entkopplungseffekt – wir wissen zwar, was die Wissenschaft zu den globalen Problemen sagt, blenden das aber in unserem täglichen Handeln aus. M steht für Machtlosigkeit – dahinter steht die Ansicht, dass der Einzelne in dieser globalen Welt durch eine Änderung seines Verhaltens ohnehin nichts bewirken könnte. A steht für Abspaltung – wir erkennen zwar an, dass sich dringend etwas ändern müsste, möchten dies aber nicht bei uns selbst, wollen also beispielsweise keine Windkraftanlagen in der eigenen Nachbarschaft. Diese Phänomene zusammen führen dazu, dass wir als Individuen weiter unserem Alltag wie bisher nachgehen und nicht aktiv zu einer besseren Welt beitragen.“ (aus einem Interview mit Insa Gall im Hamburger Abendblatt vom 17.08.2018)
Dr. Ulla Ertelt hat auf dem DMI-Fashion-Day für den Sommer 2019 anhand von sehr ernüchternden Zahlen gezeigt, wie sehr beim Konsum von Mode ethisches Bewusstsein und ethisches Handeln voneinander entkoppelt sind. Bei ihren statistischen Erhebungen zeigte sich, dass ausgerechnet DIE Altersgruppe, mit dem höchsten ökologischen Anspruch den größten ökologischen Schaden verursacht: Obwohl die Behauptung, man lege Wert auf umweltschonende, nachhaltige Produkte, bei den 14- bis 19-jährigen Mädchen um ganze 40% verbreiteter war als im Gesamtdurchschnitt, kauft genau diese Gruppe doppelt so oft neue Kleidung wie der Durchschnitt.
Diese Diskrepanz zwischen unseren Überzeugungen und unserem Konsumverhalten löst nicht nur bei uns Mode-Schaffenden, sondern auch bei dem bloggenden Landwirt Willi Kremer-Schillings, a.k.a. „Bauer Willi“, Ratlosigkeit aus: „Der Bürger stellt hohe Anforderungen, ist beispielsweise gegen Massentierhaltung oder Glyphosat. Als Verbraucher kauft er aber zum größten Teil billig ein. Wären sich Bürger und Verbraucher ähnlicher, könnten wir die Ansprüche problemlos erfüllen.“ (aus einem Interview im aktuellen enorm-Magazin) Dabei ist der Anteil von Bio-Produkten bei Lebensmitteln mit 5,7 % noch hundertmal höher als bei Mode (Marktanteil Deutschland 2017: Bio-Lebensmittel 5,7%, GOTS-zertifizierten Textilien 0,05 %).


Aber selbst diese knappen 6% sind noch lange kein ethischer Konsum. Wenn wir lieber zu Bio-Obst und Bio-Gemüse greifen, weil wir sie für gesünder halten, dann ist das weder eine moralische noch eine unmoralische Entscheidung, sondern einfach nur eine amoralische. Und wenn wir mit dem SUV zum Bio-Supermarkt zu fahren, um Bio-Brot und Bio-Eier kaufen, weil sie besser schmecken, dann ist das nicht inkonsequent sondern absolut konsequent – Wir wollen lediglich das beste Essen und das beste Auto. Und für das richtige Essen und das richtige Auto gelten ganz unterschiedliche Kriterien.

Beim Autokauf geht es zum Beispiel um Geschwindigkeit, Sicherheit, Design, Status, Komfort, Stauraum, Vertrauen, Finanzierung, Service... Die Liste ließe sich noch verlängern. Und ihre Länge zeigt, wie komplex unsere Entscheidungen für bestimmte Produkte ohnehin schon sind. Sie sind so komplex, dass wir es gar nicht schaffen, uns dabei gleichzeitig die Frage zu stellen, ob es bei der Herstellung dieses Produktes auf allen Stufen der Wertschöpfung fair und ressourcenschonend zugegangen ist und zu welchem Zeitpunkt und in welchem Ausmaß dieses Produkt im Laufe seines Lebenszyklus’ die Umwelt belastet.
Das gilt auch, und vielleicht ganz besonders, beim Kleidungskauf, der neben Fragen um Funktion, Design, Passform, Kombinierbarkeit, Bequemlichkeit, Strapazierfähigkeit, Pflege usw. unweigerlich auch noch die Auseinandersetzung mit der komplexen eigenen Identität und der Komplex-beladenen eigenen Körperlichkeit mit sich bringt. Vielen Menschen bricht schon beim bloßen Gedanken DARAN der kalte Schweiß aus. Was, wenn der Kauf von Kleidung jetzt noch ZUSÄTZLICH mit den großen globalen Problemen belastet wird? Wenn mit der Entscheidung für oder gegen ein einziges T-Shirt sowohl die Frage, wer man selbst sein will, als auch die Frage, wie die Welt sein sollte, innerhalb von Sekunden richtig beantwortet werden muss? Man sollte den Konsumenten nicht zu leicht aus seiner Verantwortung entlassen, aber man muss auch Verständnis dafür haben, dass er sich von DIESER Verantwortung überfordert fühlt. Er lehnt sie kurzerhand ab und trifft seine Konsumentscheidungen weiterhin weitgehend unabhängig von ethischen Überlegungen. Laut einer Greenpeace-Umfrage aus dem Januar 2015 ist bei Jugendlichen das wichtigste Kriterium für den Kauf eines Kleidungsstücks „das Design (81 Prozent), gefolgt vom Preis (49 Prozent). An dritter Stelle folgen Qualität, Marken und Empfehlungen. Textilsiegel (13 Prozent) oder Herstellungsbedingungen (11 Prozent) sind beim Kauf wenig entscheidend.“

Diese Erkenntnis wird bestätigt durch die unterschiedlichen Reaktionen auf zwei Ereignisse der jüngeren Vergangenheit:
2013 stürzte in Bangladesch ein Fabrikgebäude ein, in dem vor allem Textilproduktionen untergebracht waren, die für Fast-Fashion-Firmen arbeiteten. Von den 3.000 Arbeitern, die man trotz der offenkundigen Einsturzgefahr des Gebäudes zur Arbeit gezwungen hatte, wurden bei dem Unglück 1.135 getötet und 2.438 schwer verletzt. Wenn beim Kauf von Mode ethische Überlegungen eine entscheidende Rolle spielen würden, dann hätte es sich spätestens da zeigen müssen. Aber stattdessen konnte Primark (für die nachweislich damals im Rana Plaza genäht wurde) im selben Jahr einen Umsatzzuwachs von 22 % und eine Steigerung des Aktienkurses um 52% verzeichnen.

Einen Mode-Skandal ganz anderer Natur gab es Anfang diesen Jahres: Im Online-Shop von H&M tauchte ein Foto auf mit einem schwarzen Jungen in einem Sweatshirt mit der Aufschrift „COOLEST MONKEY IN THE JUNGLE“. So etwas kann man einem so exponierten Unternehmen wie H&M selbstverständlich nicht durchgehen lassen. Der Umsatz ging um 4% zurück und die Aktie fiel um 15%, auf den tiefsten Wert seit neun Jahren. Es ging hier allerdings wohlgemerkt nicht um ein, bis ins letzte Detail durchdachtes, Kampagnen-Motiv, sondern um ein Produktfoto für den Online-Shop – also um ein Foto, das im Akkord produziert wird, so dass der Stylist, um seinen Soll zu erfüllen, immer ganz schnell das eine Model umziehen muss, während das andere Model gerade fotografiert wird. Kein besonnener Mensch würde ernsthaft behaupten, dass das Unternehmen H&M farbige Menschen auf eine niedrigere Evolutionsstufe stellt. Man konnte das Foto also nur als den Lapsus eines gedankenlosen Stylisten verstehen – im Gegensatz zu Rana Plaza also kein moralisches sondern ein modisches Versagen. Ein modisches Versagen, das aber sehr schwer wog, weil es den Kern der „Fast Fashion“ in Frage stellte, nämlich dass sie „Fast“ ist. Angesichts eines so fatalen Flüchtigkeitsfehlers erschien Schnelligkeit plötzlich nicht mehr als Ausweis modischer Kompetenz, sondern als ein unkontrollierbares modisches Risiko. Deshalb entzogen Kunden und Aktionäre H&M das modische Vertrauen.

Der Konsument hält also trotz regelmäßiger Apelle an sein Gewissen hartnäckig daran fest, bei der Auswahl seiner Kleidung nicht moralische, sondern vor allem modische Maßstäbe anzulegen. Genauso wie er sein Auto auch weiterhin zunächst einmal nach technischen und nicht nach ökologischen Kriterien aussucht. Was wäre auch die Alternative? Wie würde ein ethischer Konsum in der Konsequenz aussehen? Ethischer Konsum ist ja nicht immer so leicht wie direkt aus der Flasche zu trinken, statt mit dem Strohhalm. „Neinsagen ist heute so schwer wie nie.“ schreibt Anitra Eggler im Hinblick auf die Schwierigkeiten eines kompromisslosen Konsums in einem ganz anderen Bereich: „Was das Neinsagen so scheinbar unmöglich macht, ist die Alternativlosigkeit, die dahinter lauert. Monopolbildung erfolgreich und unwiderruflich abgeschlossen: Wer die Ausnutzungsbedingungen von Google, Facebook, Apple, Microsoft, Amazon & Co. nicht akzeptiert, kann ihre Produkte und Dienste nicht nutzen – und hat oftmals keine vergleichbare Alternative.“ (aus „Mail halten!“, Campus Verlag 2017). Ließe sich Ähnliches nicht über die Modebranche sagen - angesichts von Fußgängerzonen, in denen sich Filialen von H&M, COS, & OTHER STORIES, WEEKDAY, MONKI, ARKET und CHEAP MONDAY aneinanderreihen, und ganzen Shopping-Malls, in denen kein einziges, fair gehandeltes und nachhaltig produziertes Produkt angeboten wird? Der Anspruch, ausschließlich Bio und Fair-Trade zu kaufen, würde einen genauso um Jahrzehnte in der Entwicklung der Menschheit zurückwerfen wie der Anspruch, weder direkt noch indirekt ein Produkt von Google zu nutzen. Und am Ende stünde die Größe des persönlichen Opfers, das man erbringen müsste, in einem absurden Missverhältnis zur mikroskopischen Winzigkeit des Signals, das man damit an Politik und Wirtschaft senden könnte. M steht für Machtlosigkeit.

Insofern machen es sich viele Unternehmen zu einfach, wenn sie vom Konsum ihrer Kunden auf deren Ethik schließen: Nur weil jemand bei Primark kauft, heißt das noch lange nicht, dass er das Unternehmen und seine Produktionsbedingungen gutheißt. Genausowenig wie die Tatsache, dass ich WhatsApp nutze, bedeutet, dass ich die Nutzungsbedingungen auch nur in der Nähe von okay finde.
Wie wir aus dem Vortrag über das „Fan-Prinzip“ beim vorletzten DMI-Fashion-Day wissen, ist Kunde eben nicht gleich Kunde: Es gibt unter den Kunden „Fans“, „Sympathisanten“,„Söldner“, „Gefangene“und „Gegner“. Die für ein Unternehmen kostbarsten Kunden sind die „Fans“, weil sie „äußerst zufrieden und überdurchschnittlich gebunden sind und ihre Verbundenheit zum Unternehmen gerne anderen kundtun.“ Die für ein Unternehmen gefährlichsten Kunden sind die „Gegner“, denn sie „sind weder zufrieden noch an das Unternehmen gebunden. Meistens teilen sie anderen Personen ihre Einstellung durch negative Mund-zu-Mund-Propaganda mit und schaden dem Unternehmen damit.“ Ich bin - um bei dem Beispiel zu bleiben - durch die systematischen Vertrauensbrüche von WhatsApp vom „Fan“ zum „Gegner“ geworden. Ähnlich geht es vielen Modekunden mit den Unternehmen, bei denen sie am liebsten einkaufen: Immer neue Enthüllungen über skrupellose Praktiken haben sie zunächst vom „Fan“ und Markenbotschafter zum schweigenden „Sympathisanten“gemacht. Noch ein Skandal und sie wurden zum „Söldner“, der nur noch darauf wartet, dass jemand anderes ihm ein besseres Angebot macht. Mit der nächsten Enttäuschung wurden sie dann zum „Gefangenen“und schließlich zum widerwillig kaufenden „Gegner“.
Anderen Modeunternehmen hingegen ist es durch moralische Integrität und ethisches Engagement gelungen, ihre Kunden zu echten Fans zu machen. Das könnte sich auszahlen. Glaubt man den Studien des F.A.Z.-Instituts, dann zählt vielleicht kurzfristig nur, DASS der Kunde kauft. Für den langfristigen Erfolg ist aber ganz entscheidend, MIT WELCHER EINSTELLUNG der Kunde kauft. Denn ein Kunde, der sich emotional und rational identifiziert, „kauft häufiger und mehr, liefert eine höhere Rendite, ist weniger empfänglich für Kritik und redet positiver über das Unternehmen.“

Wie gesagt: Man sollte den Konsument nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Aber Unternehmen sollten auch nicht auf ein klares und deutliches Signal des Konsumenten warten, bevor sie selbst Verantwortung übernehmen. Denn, wenn dieses klare und deutliche Signal kommt, dann ist wahrscheinlich schon alles zu spät. Denn dann ist der Kunde noch nicht einmal mehr ein „Gegner“, der trotzdem kauft, sondern einfach nur für immer weg.
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